PFA 2.2 | Albaufstieg
Bezug - Das Projektmagazin | Juli 2016 | Reportage
Jörg Rainer Müller
Droben in Aichelberg, wo Schwerlaster die Autobahn hinauf dieseln, gibt es einen kleinen Bahnhof, den keiner kennt. Der DB-Ingenieur und Teilprojektleiter Jörg Rainer Müller, gesegnet mit einer Berliner Schnauze und reichlich Erfahrung im österreichischen Tunnelbau, steht dort neben Holzpaletten, Förderbandkonsolen und Fettfässern, die tief drinnen im Berg gebraucht werden. „Diese Garnitur muss bis zu 150 Tonnen bewegen“, sagt Müller und verweist auf den Taktverkehr, deran diesem Ort längst praktiziert wird. Fast jede Stunde fährt ein neuer Zug am Verladebahnhof ab, bestückt mit den vorgefertigten Tübbingen, die für den Boßlertunnel gebraucht werden. Und das sind eine ganze Menge.
Es ist Mitte Juni. Vom kleinen Bahnhof aus hat man einen guten Blick über das Gelände der Großbaustelle. Früher grasten hier Schafe, jetzt verrichten Maschinen ihr Tagwerk, damit die Gigantin im Berg, die Tunnelvortriebsmaschine namens Käthchen, immer genug Futter hat. Die Lorenbahn, welche die vorgefertigten Betonteile zu ihr sechs Kilometer weit hinein in den Boßler bringt, wird von zwei kräftigen Loks angetrieben, eine vorne und eine hinten, beide je 35 Tonnen schwer.
Jörg Müller beobachtet vom Lagerplatz der Tübbingeaus, die gleich neben der Station auf ihren Abtransportwarten, deren Verladung. „Alle elf Minuten wird ein Stein hier in der Halle direkt vor Ort produziert und anschließend gelagert“, sagt er. Sieben Steine ergeben zusammen einen Tunnelring. 1.100 dieser Ringe können auf dem Platz gelagert werden, wobei es sich dabei um Schwerstarbeit im besten Wortsinn handelt. Ein Tübbingring misst zwei Meter, hat einen Innendurchmesser von 10,04 Metern, ist zwischen 45 und 65 Zentimeter dick und ein Stein allein wiegt bis zu 17 Tonnen. 3.125 Ringe und damit 21.875 einzelne Tübbinge sind bis zu diesem Tag von den Zügen in den Berg gekarrt und im Boßlertunnel verbaut worden. 61.600 dieser Fertigbetonteile werden es am Ende für beide Tunnelröhren sein. Mehr als 6.250 von insgesamt 8.800 Metern sind bereits aufgefahren worden. „Wir schaffen derzeit annähernd 24 Meter pro Tag“, sagt Müller. „Das ist schnell.“
Ein Rad muss dafür ins andere greifen, droben am Boßler, und damit es möglichst keine Reibungsverluste gibt, werden auf den Gleisen mit der schmalen Spurbreite von 900 Millimetern insgesamt vier bullige Züge betrieben, von denen meistens zwei gleichzeitig im Berg sind. „Einer fährt raus und einer fährt rein“, sagt Müller. Bis die Tübbinge vorne am Tunnel bei der nach Tübbingen hungrigen Vortriebsmaschine angekommen sind, dauert es bei 30 Stundenkilometern erlaubter Zuggeschwindigkeit mehr als 30 Minuten. Jede Abweichung kostet Zeit. Und die ist auf dieser Großbaustelle in bares Geld umzurechnen.
Das 110 Meter lange und 2.500 Tonnen schwere Käthchen war im April vergangenen Jahres am Portal Aichelberg gestartet und hat sich auf den Weg in Richtung Filstalbrücke gemacht. Und dabei ist sie schnell unterwegs. Angetrieben von 13 Motoren, die es auf 6.200 Pferdestärken bringen, fräst sich der Bohrer mit einem Durchmesser von 11,39 Metern durchs Gestein. Ein Meisterwerk der Technik, bestehend aus 56 Einzelschneidrollen und vier Doppelschneidrollen im Zentrum, ausgestattet mit 196 Schälmessern und16 Räumern. Durch die Drehbewegung lösen Schälmesserund Schneidrollen den Boden. Eine Förderschnecke transportiert das abgebaute Material aus der Abbaukammer auf das Nachläuferband, während zugleich die herantransportierten Tübbinge aus Stahlbeton vom sogenannten Erektor an ihre Position gesetzt werden. Präzisionsarbeit vorne, perfekte Logistik hinten.
Drei Monate zuvor, im März, hatten die Tunnelbauer am Boßler einen Meilenstein gefeiert. Damals standen die Ingenieure wie Turner nach dem Abgang vom Reck vor der Bohrmaschine, gespannt und durchaus stolz, die Füße im Betonstaub, den Kopf im Technikhimmel. Dabei befanden sie sich 250 Meter unter Tage an einem unwirklichen Ort, der ein bisschen an „ApokalypseNow“ erinnerte, den Weltuntergangsfilm von FrancisFord Coppola. Käthchen war nahezu auf den Millimetergenau in einen Tunnelabschnitt gesteuert worden, der herkömmlich bereits zuvor von einem 948 Meter langen Zugangsstollen im Umpfental bei Gruibingen aus gebaut worden war. Für gewöhnlich sehen die Tunnelbauer ihre Maschine nur hinter dem Schneidrad. Diesmal fräste sich dieses punktgenau durch den Spritzbeton und war dann auch von vorne zu sehen. Ein besonderer Moment selbst für erfahrene Ingenieure.
Auf der Neubaustrecke Wendlingen–Ulm ist der Boßlertunnel der Längste. Die beiden 8,8 Kilometer langen Röhren werden von dem neben der A 8 liegenden Portal Aichelberg aus nach oben getrieben. Sie münden in die Filstalbrücke bei Mühlhausen, ehe die Trasse dann im Steinbühltunnel auf die Hochfläche der Alb bei Hohenstadt geleitet wird. Im Boßlertunnel konnten die Experten in diesem Abschnitt nicht nur Zeit, sondern auch Geld sparen. Ursprünglich war geplant, dass die Tunnelbohrmaschine nur auf rund 2,8 Kilometern das Gestein herausbricht, der Rest des Tunnels sollte herkömmlich und damit aufwändiger und langsamer gebaut werden. Die geologischen Bedingungen erwiesen sich nach einer Reihe weiterer Erkundungsarbeiten jedoch günstiger als erwartet. Nun muss die gewaltige Tunnelvortriebsmaschine nicht schon wie zunächst vorgesehen mitten im Berg zum Portal zurückgezogen werden, sondern kann fast durch den ganzen Boßlertunnel eingesetzt werden.
Während Käthchen drinnen rund um die Uhr arbeitet, türmen sich vor dem Tunnelmund die Gesteinsberge. Lastwagen transportieren die Frachtab. „Hier arbeiten 150 LKW-Fahrer, die im 1,5-Minuten -Takt fahren“, sagt DB-Teilprojektleiter Müller und zeigt auf vier Radlader, die permanent Gestein auf Ladeflächen wuchten. „Bis zu 10.000 Tonnen Gestein werden jeden Tag aus dem Berg befördert“, bilanziert Müller. Im Herbst soll Käthchen das Filstal erreicht haben. Die Maschine wird dann noch im Tunnel zerlegt und durch den Tunnel zurück ans Portal transportiert. Dort möbeln sie Spezialisten auf und machen sie fit für die zweite Schildfahrt durch den Boßler. „Ende 2018 wird sie auch diesen Job erledigt haben“, sagt Müller. Dann ist der größte Tunnel der Neubaustrecke Wendlingen–Ulm betonierte Realität.